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Merkava-Mystik

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Der Begriff „Merkava-Mystik“ bezeichnet eine alte Form jüdischen mystischen Denkens und Handelns, die sich von der bekannteren Kabbala unterscheidet. Das Wort „Merkava“ (hebräisch für „Wagen“) wird in diesem Zusammenhang verwendet, um die mystische Vision des göttlichen Wagens zu bezeichnen, die im Buch Hesekiel der Hebräischen Bibel (Hesekiel 1) beschrieben wird. Die Merkava-Mystik wird manchmal auch „Wagen-Mystik“ oder „Hesekiel-Mystik“ genannt, da sie sich auf die Vision des Propheten Hesekiel vom göttlichen Thron und den ihn begleitenden Engelwesen konzentriert.

Schlüsselelemente der Merkava-Mystik

Die Vision Hesekiels:

Die Merkava-Mystik basiert im Wesentlichen auf Hesekiels Vision des göttlichen Wagens (Hesekiel 1). Diese beschreibt eine mystische und komplexe Erfahrung mit einem von vier Lebewesen gezogenen Wagen mit Rädern in Rädern, umgeben von Feuer und begleitet von Engeln. Diese Vision wurde als tiefgreifende mystische Erfahrung interpretiert, in der Hesekiel der göttlichen Gegenwart (der Schechina) begegnet.

Aufstieg zum göttlichen Thron:

Praktizierende der Merkava-Mystik glaubten, dass es durch bestimmte meditative Praktiken möglich sei, wie Hesekiel, spirituell zum Thron Gottes aufzusteigen. Der Mystiker würde aufsteigen und dabei mehrere Reiche oder himmlische Tore durchqueren, um eine innige Begegnung mit dem Göttlichen zu erleben.

Dieser Aufstieg wurde als Mittel zur direkten Verbindung mit Gott angesehen, ähnlich der Erfahrung von Prophezeiung oder göttlicher Offenbarung.

Theologische und mystische Konzepte:

Der Merkava (Wagen): In dieser mystischen Tradition stellt der Wagen das Vehikel der göttlichen Gegenwart dar, eine Metapher für den spirituellen Aufstieg, der erforderlich ist, um sich Gott zu nähern.

Engel und göttliche Wesen: Die vier in Hesekiels Vision beschriebenen Lebewesen mit jeweils vier Gesichtern (Mensch, Löwe, Ochse und Adler) werden oft als mächtige Engelwesen interpretiert. In der Merkava-Mystik gelten sie als Symbol für die göttlichen Sphären, die während des mystischen Aufstiegs durchschritten werden müssen.

Der Thron der Herrlichkeit (Kisei HaKavod): Dieses Konzept bezieht sich auf den göttlichen Thron, ein zentrales Merkmal der Merkava-Mystik. Der Mystiker strebt danach, Zugang zur Gegenwart Gottes auf seinem Thron zu erlangen, was eine seltene und erhabene spirituelle Erfahrung darstellt.

Die Rolle von Meditation und Reinigung:

Die Merkava-Mystik beinhaltet oft Rituale, Gebete und Meditationstechniken, die den Praktizierenden auf den spirituellen Aufstieg vorbereiten sollen. Diese Praktiken zielten darauf ab, die Seele zu reinigen, weltliche Ablenkungen zu überwinden und göttliche Vision zu erlangen.

Die mit der Merkava-Mystik verbundenen Texte umfassen mystische Gebete, Engelanrufungen sowie Visualisierungs- und Konzentrationstechniken. Diese Praktiken galten als gefährlich, da man glaubte, sie beinhalteten direkten Kontakt mit dem Göttlichen und erforderten Reinheit und spirituelle Vorbereitung des Praktizierenden.

Geheimhaltung und Exklusivität:

Die Merkava-Mystik galt traditionell als esoterische und geheime Tradition. Sie wurde oft nur fortgeschrittenen Schülern gelehrt, die bereit waren, sich intensiver spiritueller Disziplin zu unterziehen.

Die Lehren wurden durch geheime mündliche Überlieferungen und mystische Texte weitergegeben. Da die Praktiken als mächtig und potenziell gefährlich galten, wurden sie vor der Öffentlichkeit geheim gehalten und der Zugang war nur wenigen Auserwählten gestattet.

Die Hechalot-Texte:

Hechalot-Texte (hebräisch für „Paläste“) sind eine Sammlung mystischer Schriften, die den Aufstieg zum göttlichen Thron und die damit verbundenen mystischen Erfahrungen beschreiben. Diese Texte konzentrieren sich auf die Visionen göttlicher Paläste und die notwendigen Reinigungsrituale, um sich der Gegenwart Gottes zu nähern.

Sie beschreiben detailliert die Bereiche, die der Mystiker durchqueren muss, die Engel, die jeden Bereich bewachen, und die notwendigen Rituale, um sich dem Thron der Herrlichkeit zu nähern.

Spätere Einflüsse:

Obwohl sich die Merkava-Mystik zunächst auf asketische und meditative Praktiken im antiken Judentum konzentrierte, beeinflusste sie die spätere jüdische Mystik, einschließlich der Kabbala. In der Kabbala entwickelte sich das Konzept des göttlichen Aufstiegs und die Erfahrung der Interaktion mit göttlichen Wesen, wobei sich die Kabbala stärker auf das Verständnis der Struktur des Universums, der göttlichen Emanationen (der Sefirot) und der Natur der Schöpfung Gottes konzentriert.

Einige Aspekte der Merkava-Mystik fanden auch in der frühchristlichen und islamischen Mystik (Sufismus) Anklang, da diese Traditionen ebenfalls Visionen der Himmelfahrt und der mystischen Gemeinschaft mit dem Göttlichen beinhalten.

Schlüsseltexte der Merkava-Mystik

Die Hekhalot Rabbati: Ein wichtiger Text der Hechalot-Tradition, der den mystischen Aufstieg zum göttlichen Thron und die damit verbundenen Erfahrungen beschreibt.

Die Hekhalot Zutarti: Eine kürzere, prägnantere Fassung der Hekhalot-Lehren, die sich auf die Himmelfahrtspraxis und die Interaktion mit Engeln konzentriert.

Die Merkava Rabba: Ein weiterer wichtiger Text, der die mystischen Praktiken und Visionen im Zusammenhang mit der Merkava detailliert beschreibt. 

Merkava-Mystik.

Fazit

Die Merkava-Mystik ist eine tiefgründige und esoterische Form der jüdischen Mystik, die sich auf spirituellen Aufstieg, göttliche Gemeinschaft und die im Buch Hesekiel beschriebene Vision des göttlichen Wagens konzentriert. Die Praxis galt als streng geheim und war traditionell fortgeschrittenen Praktizierenden vorbehalten, die sich einer strengen spirituellen Reinigung unterzogen hatten. Sie hatte einen nachhaltigen Einfluss auf die jüdische Mystik und insbesondere auf die Entwicklung des kabbalistischen Denkens, auch wenn sie sich durch ihre Betonung direkter göttlicher Begegnungen und des mystischen Aufstiegs in die himmlischen Sphären auszeichnet.