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Thomas-Evangelium

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Das Thomasevangelium ist ein antiker Text mit 114 Sprüchen (Logien), die Jesus zugeschrieben werden. Es gehört zu den Nag-Hammadi-Texten, die 1945 in der ägyptischen Wüste als Teil einer größeren Sammlung gnostischer Schriften entdeckt wurden. Im Gegensatz zu den kanonischen Evangelien (Matthäus, Markus, Lukas und Johannes) enthält das Thomasevangelium keine Erzählung über Jesu Leben, Tod oder Auferstehung. Stattdessen konzentriert es sich ausschließlich auf seine Lehren.

Das Thomasevangelium wird oft als gnostischer Text angesehen, obwohl es nicht strikt allen gnostischen Prinzipien entspricht. Seine Hauptthemen sind mystisch und spirituell und betonen innere Erkenntnis (Gnosis) und Selbsterkenntnis als Weg zur Erlösung.

Hauptmerkmale des Thomasevangeliums:

Sprüche Jesu:

Das Evangelium besteht aus 114 Sprüchen, die Jesus zugeschrieben werden. Viele dieser Sprüche ähneln denen der kanonischen Evangelien, andere sind jedoch einzigartig. Die Lehren des Thomasevangeliums konzentrieren sich oft auf innere Spiritualität, direkte Gotteserkenntnis und die Notwendigkeit, das „Reich Gottes“ in sich selbst zu entdecken.

Keine Erzählung oder Biografie:

Im Gegensatz zu den vier kanonischen Evangelien erzählt das Thomasevangelium nicht die Geschichte von Jesu Geburt, Wundern, Kreuzigung oder Auferstehung. Es ist lediglich eine Sammlung seiner Worte. Dies ist einer der Gründe, warum Gelehrte das Thomasevangelium als Vertreter einer eher mystischen und philosophischen Tradition innerhalb des frühen Christentums betrachten.

Fokus auf Erkenntnis (Gnosis):

Ein zentrales Merkmal des Thomasevangeliums ist die Vorstellung, dass Erlösung durch Gnosis, also mystische Erkenntnis, erlangt wird und nicht durch den Glauben an Jesu Tod und Auferstehung. In diesem Text wird das „Reich Gottes“ als etwas betrachtet, das durch persönliche innere Erfahrung entdeckt wird, und nicht als etwas, das äußerlich existiert.

Eine der bekanntesten Zeilen des Thomasevangeliums spiegelt diesen Gedanken wider: „Wenn du hervorbringst, was in dir ist, wird dich das, was du hervorbringst, retten. Wenn du nicht hervorbringst, was in dir ist, wird dich das, was du nicht hervorbringst, zerstören.“ (Spruch 70).

Das Reich Gottes in uns:

Das Thomasevangelium betont, dass das Reich Gottes kein zukünftiges Ereignis oder ein Ort ist, der nach dem Tod erreicht wird, sondern etwas in jedem Menschen. So heißt es beispielsweise im dritten Spruch: „Das Reich Gottes ist in euch und außerhalb von euch. Wenn ihr euch selbst erkennt, werdet ihr erkannt werden und erkennen, dass ihr die Söhne des lebendigen Vaters seid.“

Diese Lehre steht im Gegensatz zur Sichtweise der kanonischen Evangelien, in denen das Reich Gottes oft als zukünftiges Ereignis oder kommendes Reich dargestellt wird.

Nicht-Dualität und Einheit:

Einige Sprüche im Thomasevangelium legen eine nicht-dualistische Weltsicht nahe, in der Gegensätze wie Männlich und Weiblich, Gut und Böse letztlich in einer tieferen spirituellen Realität vereint sind. So heißt es beispielsweise in Spruch 22: „Wenn du die beiden eins machst und das Innere wie das Äußere und das Äußere wie das Innere, das Männliche und das Weibliche zu einem Ganzen machst, sodass das Männliche nicht männlich und das Weibliche nicht weiblich ist … dann wirst du in das Himmelreich eingehen.“

Dies deutet auf ein Verständnis spiritueller Ganzheit hin, in dem die Unterscheidungen zwischen Gegensätzen in der Gegenwart göttlicher Wahrheit verschwinden.

Askische und mystische Elemente:

Obwohl das Thomasevangelium nicht so asketisch ist wie manche gnostischen Schriften, enthält es Elemente, die den Verzicht auf weltliche Bindungen fördern und die Notwendigkeit innerer Transformation betonen. Der Text ermutigt dazu, über äußere religiöse Praktiken und Rituale hinauszugehen und sich auf Selbsterkenntnis und innere Reinheit zu konzentrieren.

Einige bemerkenswerte Aussagen aus dem Thomasevangelium:

Ausspruch 1: „Wer die Deutung dieser Worte findet, wird den Tod nicht schmecken.“

Dies deutet darauf hin, dass das wahre Verständnis der Worte Jesu zum ewigen Leben führt.

Ausspruch 3: „Das Reich Gottes ist in euch und außerhalb von euch.“

Eine tiefgründige Aussage über die innere Natur der Herrschaft Gottes.

Ausspruch 77: „Ich bin das Licht, das über allen Dingen ist. Ich bin das All. Das All kam von mir, und das All erreichte sein Ende in mir.“

Dies spiegelt eine mystische Vision der Einheit mit dem Göttlichen wider und greift Themen von Licht und Einheit auf, die oft in gnostischen Texten zu finden sind.

Ausspruch 113: „Seine Jünger fragten ihn: ‚Wann wird das Reich Gottes kommen?‘“ Jesus sagte: „Es wird nicht kommen, wenn man darauf wartet. Man kann nicht sagen: ‚Hier ist es‘ oder ‚Da ist es‘. Vielmehr ist das Reich des Vaters auf der Erde ausgebreitet, und die Menschen sehen es nicht.“

Das deutet darauf hin, dass das Reich Gottes nicht etwas ist, das man in der Zukunft erwarten kann, sondern etwas, das für diejenigen, die Augen haben, bereits gegenwärtig ist.

Das Thomasevangelium und das frühe Christentum:

Das Thomasevangelium ist bedeutsam, weil es einen Einblick in eine Form des frühen Christentums bietet, die nicht die Kreuzigung und Auferstehung Jesu als zentrales Ereignis der Erlösung in den Mittelpunkt stellte. Stattdessen konzentrierte es sich 

über persönliche Transformation und spirituelle Erleuchtung. Das Evangelium wird manchmal mit dem Gnostizismus in Verbindung gebracht, einer breiten religiösen und philosophischen Bewegung in den frühen Jahrhunderten des Christentums, die Wissen (Gnosis) als Schlüssel zur Erlösung betonte, oft durch esoterische oder mystische Mittel.

Die orthodoxe christliche Kirche akzeptierte das Thomasevangelium nicht als Teil des neutestamentlichen Kanons, und es geriet bis zu seiner Wiederentdeckung im 20. Jahrhundert weitgehend in Vergessenheit. Seine Lehren faszinieren jedoch weiterhin moderne Gelehrte, spirituell Suchende und diejenigen, die sich für alternative Interpretationen der christlichen Theologie interessieren.

Kontroverse und Ausschluss aus dem Neuen Testament:

Das Thomasevangelium wurde von frühen Kirchenkonzilen aus dem neutestamentlichen Kanon ausgeschlossen, weil es Ideen enthielt, die von der aufkommenden orthodoxen christlichen Lehre als ketzerisch angesehen wurden. Es stand im Einklang mit bestimmten frühchristlichen Gruppen, die unorthodoxe Ansichten über das Wesen der Erlösung, des Wissens und die Beziehung zwischen den Lehren Jesu und der Erzählung von Tod und Auferstehung vertraten. Der Fokus des Evangeliums auf die persönliche, mystische Erfahrung des Göttlichen wurde als unvereinbar mit der umfassenderen christlichen Botschaft des Glaubens an Tod und Auferstehung Jesu angesehen.
Einfluss in der Neuzeit:

Seit der Wiederentdeckung des Thomasevangeliums, insbesondere nach der Entdeckung in Nag Hammadi 1945, hat es ein erneutes Interesse an der frühchristlichen Mystik und den alternativen christlichen Richtungen geweckt, die von der frühen Kirche unterdrückt wurden. Viele moderne spirituell Suchende, insbesondere diejenigen, die sich für Mystik oder kontemplatives Christentum interessieren, finden Anklang in den Lehren des Thomasevangeliums, die zu tiefen, persönlichen und transformierenden Begegnungen mit dem Göttlichen ermutigen.
Fazit:

Das Thomasevangelium bietet eine besondere Perspektive auf die Lehren Jesu und konzentriert sich auf innere spirituelle Erkenntnis und Transformation statt auf äußere religiöse Bräuche oder die Erzählung von Jesu Tod und Auferstehung. Obwohl es aus dem biblischen Kanon ausgeschlossen wurde, bleibt es ein wichtiger Text für das Verständnis der Vielfalt des frühchristlichen Denkens und inspiriert auch heute noch spirituell Suchende und Gelehrte.