Die Thomastradition bezeichnet eine Gruppe frühchristlicher Glaubensvorstellungen, Schriften und Gemeinschaften, die mit dem Apostel Thomas, auch bekannt als ungläubiger Thomas, in Verbindung gebracht werden. Diese Tradition, oft auch als Thomasinische Tradition bezeichnet, betont bestimmte Texte und Interpretationen des Christentums, die sich von den orthodoxen Lehren des kanonischen Neuen Testaments unterscheiden. Sie ist hauptsächlich mit dem Thomasevangelium und den Gemeinschaften verbunden, die den Apostel Thomas verehrten.
Hier eine Übersicht über die Inhalte der Thomastradition:
1. Das Thomasevangelium:
Einer der wichtigsten Texte der Thomastradition ist das Thomasevangelium, eine Sammlung von Jesus zugeschriebenen Aussprüchen, die 1945 in Nag Hammadi (Ägypten) entdeckt wurden. Das Thomasevangelium wird oft den gnostischen Evangelien zugerechnet, obwohl es nicht vollständig in die gnostische Tradition passt.
Die Besonderheit des Textes liegt darin, dass er sich primär auf die Aussprüche (oder Logien) Jesu konzentriert und nicht auf narrative Ereignisse wie seine Geburt, seinen Tod oder seine Auferstehung. Es enthält 114 Sprüche, von denen viele Themen wie mystisches Wissen, Selbstfindung und die direkte Erfahrung des Göttlichen aufgreifen.
Das Evangelium betont die Idee, dass göttliche Erkenntnis (Gnosis) zur Erlösung führen kann, anstatt sich auf traditionelle religiöse Riten oder den Glauben an eine narrative Erlösung durch Jesu Kreuzigung und Auferstehung zu verlassen.
Einige berühmte Sprüche aus dem Thomasevangelium sind:
„Wer die Deutung dieser Worte findet, wird den Tod nicht schmecken.“
„Wenn du hervorbringst, was in dir ist, wird dich das, was du hervorbringst, retten. Wenn du nicht hervorbringst, was in dir ist, wird dich das, was du nicht hervorbringst, zerstören.“
2. Die Rolle des Apostels Thomas:
Thomas der Apostel ist zentral für diese Tradition und bekannt für seinen anfänglichen Skeptizismus bzw. Zweifel an der Auferstehung Jesu. Die berühmte Formulierung „ungläubiger Thomas“ stammt von seiner Forderung nach einem physischen Beweis für die Auferstehung Jesu (Johannes 20,24-29). Thomas' späteres Glaubensbekenntnis, als er dem auferstandenen Jesus begegnet, wird jedoch oft als tiefgreifend und symbolisch für eine Reise vom Zweifel zur spirituellen Erkenntnis angesehen.
In der thomasinischen Tradition wird Thomas manchmal nicht als Zweifler, sondern als Wahrheitssucher dargestellt. Seine Reise wird als eine Reise tieferen Verständnisses und spirituellen Erwachens gesehen.
3. Gnostischer Einfluss:
Das Thomasevangelium weist viele Ähnlichkeiten mit gnostischen Texten auf, die geheimes Wissen (Gnosis) als Schlüssel zur Erlösung betonen. Im Gnostizismus wird Erlösung als Erwachen zur göttlichen Erkenntnis gesehen, die in jedem Menschen liegt.
Die thomasinische Tradition betont oft die innere, mystische Erfahrung der Lehren Jesu, im Gegensatz zum eher äußerlichen, institutionalisierten Christentum, das sich in der frühen Kirche entwickelte.
4. Thomas im östlichen Christentum:
Das thomasinische Christentum hat auch historische Verbindungen zu frühchristlichen Gemeinden im Osten. Die syrisch-christliche Tradition und die Kirche des Ostens (oft auch Assyrische Kirche genannt) führen ihre Ursprünge auf die Missionsarbeit des Apostels Thomas zurück, der vermutlich nach Indien reiste und dort, insbesondere in der Region Kerala, christliche Gemeinden gründete.
Die Thomaschristen in Indien pflegen eine Tradition, die ihr Erbe auf den Apostel Thomas zurückführt. Viele Kirchen in der Region beanspruchen ihre direkte apostolische Gründung durch Thomas. Diese Gruppe betont weiterhin die Missionstätigkeit des Apostels im Osten.
5. Die Suche nach Wissen und dem Reich im Inneren:
Eines der zentralen Themen der Thomastradition ist die Vorstellung, dass das Reich Gottes nicht etwas Äußeres ist, das durch religiöse Rituale oder externe Autoritäten gesucht werden muss, sondern etwas, das im eigenen Inneren verwirklicht werden kann.
Das Thomasevangelium spiegelt diese Vorstellung wider, insbesondere in Aussagen wie:
„Das Reich Gottes ist in dir und außerhalb von dir.“
„Wenn du die zwei eins machst und das Innere dem Äußeren und das Äußere dem Inneren gleich machst und das Männliche und das Weibliche zu einem einzigen machst, sodass das Männliche nicht männlich und das Weibliche nicht weiblich ist … dann wirst du in das Königreich eingehen.“
Dies spiegelt die Betonung innerer spiritueller Erkenntnis und der Erkenntnis göttlicher Wahrheit als einer allen zugänglichen Erfahrung wider.
6. Kontroversen und orthodoxe Ablehnung:
Das Thomasevangelium und die breitere thomasinische Tradition wurden von der frühen orthodoxen christlichen Kirche weitgehend abgelehnt und aus dem Kanon des Neuen Testaments ausgeschlossen. Insbesondere die katholische Kirche akzeptierte das Thomasevangelium und die darin vertretenen Ideen nicht als orthodoxes Christentum.
Die Gründe für diesen Ausschluss liegen in der Betonung persönlicher, mystischer Erfahrung gegenüber doktrinärem Glauben sowie in seinen gnostisch anmutenden Elementen, die von den frühen Kirchenführern als ketzerisch angesehen wurden.
7. Modernes Interesse an der Thomastradition:
In der Neuzeit, insbesondere mit der Entdeckung
Durch die Erforschung der Nag-Hammadi-Bibliothek und die Übersetzung der gnostischen Texte ist das Interesse an der Thomastradition und dem Thomasevangelium wieder erwacht. Viele Gelehrte und spirituell Suchende sehen in diesen Texten eine eher mystische und esoterische Perspektive auf die Lehren Jesu.
Einige zeitgenössische Christen sowie Menschen, die sich mit der Spiritualität des New Age auseinandersetzen, finden, dass das Thomasevangelium mit ihrer eigenen Erfahrung auf der Suche nach tieferer, persönlicherer Erkenntnis des Göttlichen übereinstimmt.
Fazit:
Die Thomastradition stellt einen reichen, mystischen Zweig des frühen Christentums dar, der die direkte Erkenntnis des Göttlichen, Selbstverwirklichung und die innere Reise zur spirituellen Erleuchtung betont. Durch Texte wie das Thomasevangelium war die Tradition sowohl einflussreich als auch umstritten. Sie bietet eine alternative Perspektive auf die Lehren Jesu und konzentriert sich auf persönliche Offenbarung und das Reich Gottes im Inneren, anstatt auf äußere Rituale oder Dogmen.