Die valentinianische Gnosis ist eine spezifische Form des Gnostizismus, die von Valentinus und seiner Schule im 2. Jahrhundert entwickelt wurde. Diese Form des Gnostizismus stellt eine besonders komplexe und systematische Interpretation des christlichen Glaubens dar und kombiniert Elemente aus der griechischen Philosophie, der jüdischen Mystik und der frühen christlichen Theologie.
Das höchste Prinzip – der Unbekannte Vater (Der Gott über allem):
Im Valentinianismus wird die höchste göttliche Realität als der „Unbekannte Vater“ bezeichnet, der als das absolute, unmanifestierte und unbegrenzte Prinzip verstanden wird. Er ist der Ursprung von allem, aber jenseits aller Namen, Konzepte und Begriffe. Dieser „Unbekannte Vater“ ist das unermessliche Prinzip der göttlichen Einheit.
Er ist transzendent und jenseits jeglicher Vorstellungskraft. Alles, was existiert, geht von diesem höchsten Gott aus, aber dieser bleibt für das menschliche Verständnis im Wesentlichen verborgen.
Emanationen und die Entstehung der Welt:
Valentinus lehrte, dass der Unbekannte Vater eine Reihe von Emanationen hervorbrachte, die als eine Reihe von göttlichen Prinzipien verstanden werden, die aus der höchsten göttlichen Quelle entspringen. Diese Emanationen repräsentieren die Entfaltung der göttlichen Weltordnung und die Beziehung zwischen dem höchsten Gott und der geschaffenen Welt.
Eine der ersten und wichtigsten dieser Emanationen ist Sophie (Weisheit), die als weibliches Prinzip betrachtet wird und eine zentrale Rolle in der valentinianischen Kosmologie spielt. Sophie wird als die göttliche Weisheit beschrieben, die durch ihre eigene göttliche Natur die materielle Welt hervorbrachte, aber diese Schöpfung war nicht vollkommen. In einigen gnostischen Systemen, einschließlich des Valentinianismus, wird Sophie als Ursache des Demiurgen (dem „Schöpfer“ der materiellen Welt) gesehen, der nicht die höchste göttliche Vollkommenheit besitzt.
Der Demiurg – Schöpfer der materiellen Welt:
In der Valentinianischen Gnosis ist der Demiurg der Schöpfer der materiellen Welt. Er wird oft als eine niedrigere göttliche Entität beschrieben, die aus den Emanationen der göttlichen Weisheit hervorging, aber nicht die absolute Göttlichkeit des Unbekannten Vaters verkörpert.
Der Demiurg wird nicht als böse dargestellt, wie es in manchen anderen gnostischen Systemen der Fall ist, sondern als eine Art unvollkommener Schöpfer, der die materielle Welt erschuf, jedoch ohne das Wissen über den höheren, göttlichen Ursprung. Dadurch ist die materielle Welt als fehlerhaft und unvollständig anzusehen.
Der Fall und die materielle Welt:
Die Welt, wie wir sie erfahren, ist ein Fehler der göttlichen Ordnung. Diese „Fehlgeburt“ der göttlichen Schöpfung ist nicht das wahre Ziel für die Seele. In der gnostischen Vorstellung ist die materielle Welt ein Gefängnis für die Seele, die sich in ihr verirrt hat und von der göttlichen Wahrheit abgeschnitten ist.
Die Seele ist im Valentinianismus in ihrer ursprünglichen göttlichen Natur reiner und heiliger als die materielle Welt, und ihre wahre Heimat ist die spirituelle Welt oder das göttliche Reich. Die Aufgabe des Menschen besteht darin, durch Gnosis – das Erkennen der Wahrheit – seine göttliche Herkunft wieder zu entdecken und zur wahren Realität zurückzukehren.
Gnosis – Der Weg zur Erlösung:
Der Weg zur Erlösung im Valentinianismus ist der Weg der Gnosis – des tiefen, intuitiven Wissens über die wahre Natur des Selbst und der Welt. Gnosis ist nicht nur intellektuelles Wissen, sondern eine spirituelle Erkenntnis, die die Seele von der Fessel der materiellen Welt befreit.
In dieser Tradition wird Jesus Christus als der Erlöser betrachtet, der das göttliche Wissen (Gnosis) verkündet und den Menschen den Weg zur Befreiung von der materiellen Welt und zur Rückkehr zur göttlichen Quelle zeigt.
Christus als Erlöser und Offenbarer:
Für Valentinus und seine Anhänger ist Jesus Christus der göttliche Offenbarer, der den Menschen das wahre Wissen über die göttliche Realität vermittelt. Christus wird als der Vermittler zwischen der irdischen, materiellen Welt und der spirituellen Welt dargestellt.
Christus lehrt nicht nur moralische oder ethische Prinzipien, sondern vor allem, wie man die wahre göttliche Natur erkennt. Durch seine Offenbarung können die Menschen aus der Unwissenheit (die als das größte Hindernis für die Erlösung gilt) befreit werden und zu einer höheren, göttlicheren Erkenntnis gelangen.
Die kosmische Hierarchie und die göttlichen Emanationen:
Im Valentinianismus gibt es eine komplexe Hierarchie von göttlichen Emanationen, die aus dem höchsten Prinzip (dem „Unbekannten Vater“) hervorgehen. Diese Emanationen sind in Paaren organisiert – männliche und weibliche Prinzipien – und sie spiegeln das harmonische Zusammenspiel von göttlicher Weisheit und schöpferischer Energie wider.
Die Rolle von Sophie (Weisheit):
Sophie ist eine zentrale Figur in der valentinianischen Kosmologie. Sie ist die Verkörperung der göttlichen Weisheit und eine der ersten Emanationen des höchsten Vaters. Ihr „Fall“ – die Entstehung des Demiurgen und der materiellen Welt – wird als eine tragische, aber notwendige Entwicklung betrachtet, die den Weg für die Rückkehr der Seele zur göttlichen Quelle ebnet.
Erlösung durch Erkenntnis (Gnosis):
Die Gnosis ist der einzige Weg zur Erlösung. Sie bedeutet, die wahre Natur der Welt zu erkennen, die göttliche Herkunft des Selbst zu verstehen und die materiellen Bindungen zu überwinden, um wieder in die Einheit mit dem höchsten göttlichen Prinzip zurückzukehren. Es handelt sich um eine spirituelle Erkenntnis, die von den gnostischen Lehren und Praktiken vermittelt wird.
Die Lehren des Valentinianismus sind vor allem in den Schriften von Irenäus von Lyon in seinem Werk „Adversus Haereses“ (Gegen die Häresien) überliefert, da er die gnostische Lehre als Häresie verwarf.
Einige valentinianische Schriften wurden in den Nag-Hammadi-Schriften entdeckt, insbesondere in Texten wie dem Evangelium der Wahrheit, dem Evangelium der Philippus und dem Evangelium der Maria. Diese Schriften geben wertvolle Einblicke in die gnostische Lehre und die valentinianische Interpretation des Christentums.
Die valentinianische Gnosis stellt eine tiefgründige und systematische Form des Gnostizismus dar, die die göttliche Ordnung als eine Reihe von Emanationen betrachtet, wobei die höchste Realität jenseits der materiellen Welt liegt. Die Erlösung erfolgt durch Gnosis – das tiefe, spirituelle Wissen über die wahre Natur des Selbst und des Universums. Valentinus sah Christus als den Erlöser, der das göttliche Wissen überbrachte und den Weg zur Befreiung von der Illusion der materiellen Welt zeigte.